Das Tympanon-Relief der Nikolai-Kirche in Potsdam

Spurensuche am 29.06.2024 - Das Tympanon-Relief der Nikolai-Kirche in Potsdam

Dr. Peter-Michael Bauers

Das Tympanon-Relief der Nikolai-Kirche in Potsdam
mit Gunnar Lammert-Türk
29.06.2024 - 10:00
16.05.2024
Gunnar Lammert Türk

Im durch den Zweiten Weltkrieg zerstörten Giebelfeld der Nikolaikirche in Potsdam und nun wieder neugeschaffenen Tympanon ist der Jesus der Bergpredigt zu sehen, umgeben von achtzehn Menschen, die ihm zuhören. Gunnar Lammert-Türk berichtet über die Neuschaffung des Tympanons und die heutige Aktualität.

 

„Ich habe die Hoffnung, dass, wenn man als Besucher auf den Alten Markt kommt, man sich die Zeit nimmt, innezuhalten und sich diesen Figuren auszusetzen.“

Pfarrerin Susanne Weichenhan spricht von den Relieffiguren im Tympanon, dem Giebelfeld der Nikolaikirche, in Potsdam. Susanne Weichenhan war dort von 2004 bis 2019 tätig und hat in dieser Zeit für umfassende Restaurierungsarbeiten an der Kirche gesorgt, darunter auch für die Wiederherstellung das Giebelreliefs, das ihr ans Herz gewachsen ist. In ihm ist der Jesus der Bergpredigt zu sehen, umgeben von achtzehn Menschen, die ihm zuhören. Und das ist noch nicht lang wieder der Fall. Der Alte Markt in Potsdam, einst einer der schönsten Marktplätze Europas, war gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ein Trümmerfeld. Das Rathaus, das Stadtschloss und die Nikolaikirche waren Ruinen. Erst 1981 wurde die Kirche, nachdem sie viele Jahre als Lagerraum zweckentfremdet worden war, wieder für Gottesdienste nutzbar gemacht. Doch das Giebelfeld über dem Eingang der Kirche blieb leer. Die Figuren im Tympanon fehlten. Sie wurden erst zwischen

2015 und 2018 wieder neu geschaffen.

 

Die Quellen der Rekonstruktion

Dafür brauchte der heutige Bildhauer Rudolf Böhm Vorlagen. Er nutzte Fotografien der Kirche von 1905 und ein Modell des Giebelfeld-Reliefs, das der damalige Bildhauer August Kiß 1833 angefertigt hatte. Zum Nachempfinden von dessen Stilistik dienten Skulpturen von ihm: ein auf einem Delphin reitender Knabe im Park von Sanssouci, ein heiliger Georg und die gegen einen Löwen kämpfende Amazone vor dem Alten Museum in Berlin.

 

Eine Kirche der Seligpreisungen

Dem Relief am Tympanon der Nikolaikirche verwandt ist ein kleineres im Inneren an der Kanzel. Beide hat der Architekt der Kirche, Karl Friedrich Schinkel, „Christus hält die Bergpredigt“ genannt. Beide stehen in Verbindung zu den Seligpreisungen, denn nach Schinkels Vorstellung sollte die gesamte Kirche die Seligpreisungen der Bergpredigt einprägen und nahebringen.

 

Das Rätsel des stehenden Jesus

Vier Seligpreisungen sind über den Figuren im Tympanon angebracht. Sie stammen aus dem Matthäus-Evangelium. Dort heißt es sinngemäß: Jesus setzte sich und lehrte das Volk und sprach. Der Christus auf dem Tympanon-Relief steht aber. Das machte Pfarrerin Weichenhan stutzig. In einem Buch über Schinkel-Bauten in Potsdam fand sie den Hinweis, dass ursprünglich neben den vier Seligpreisungen auf der Eingangsfront auch die Aufforderung zur Feindesliebe aus dem Lukas-Evangelium stehen sollte. Die findet sich dort in der sogenannten Feldrede, einer kürzeren Variante der Bergpredigt bei Matthäus. Lukas erwähnt nicht, ob Jesus sie stehend oder sitzend gehalten hat, dafür aber, dass er vor seiner Rede viele der Anwesenden geheilt hat und dass eine Kraft von ihm ausging. So deutet Pfarrerin Weichenhan denn auch die ausgebreiteten Arme des stehenden Jesus. Von ihm, sagt sie, geht eine heilende Kraft aus, die zugleich tröstet und erleuchtet.

 

Ein reiches Spektrum an Figuren

So ist Jesus im Zentrum des Reliefs zu sehen, umgeben von einem Querschnitt der Bevölkerung seiner Zeit. Alte und junge Menschen sind darunter. Sie üben verschiedene Berufe aus, gehören zu verschiedenen gesellschaftlichen Ständen. Und sie reagieren ganz unterschiedlich auf das, was sie hören: von nachdenklich bis fasziniert, von fragend bis desinteressiert, von hingerissen bis kritisch.

Pfarrerin Weichenhan hat sich immer wieder in einzelne Gestalten des Reliefs vertieft und sie auf sich wirken lassen. Besonders fühlt sie sich von einer Familie angesprochen: „Ein Mann mit einer phrygischen Mütze sitzt mit nachdenklich aufgestütztem Arm und blickt Richtung Christus. An seine Schulter gelehnt ist seine Frau mit einem kleinen Kind auf dem Schoß und neben ihr noch zu sehen ihr kleiner, ja vielleicht sechs- oder siebenjähriger zweiter Sohn, der ganz lebendig auch lauscht. Das Kind auf dem Schoß der Mutter schläft. Auch so kann man eine Predigt hören.“

Dieser Familie scheint Jesus direkt ins Herz zu sprechen, sie hört ihm gern zu. Das Relief zeigt auch Menschen, die durch Jesus provoziert werden, wie zwei römische Soldaten. Gewohnt an das Kriegshandwerk, das zugleich ihr Broterwerb ist, mögen sie durch die Aufforderung zur Feindesliebe irritiert sein.

 

Von bleibender Aktualität

Das Relief des Bildhauers August Riß setzte im 19. Jahrhundert eine Entwurfzeichnung des Architekten Schinkel um. Darauf ist neben Menschen, die zur Zeit Jesu lebten, auch eine Frauenfigur zu sehen, die nach der Mode der Entstehungszeit des Reliefs, mit einer sogenannten Schute auf dem Kopf, gekleidet ist. Denn die Tympanon-Figuren sollten zu den Zeitgenossen des Architekten und des Bildhauers sprechen.

Auch zu den heutigen Menschen sprechen sie, auch ihnen bietet die Bergpredigt Anregung und Mahnung, für das private ebenso wie für das öffentliche Leben: etwa das Lob der Sanftmütigen und derer, die sich nach Gerechtigkeit sehnen. Nicht weniger das Gebot der Feindesliebe und der Achtung vor den Friedfertigen, den Friedensstiftern.

So schauen die Figuren mehr als 70 Jahre nach ihrer Zerstörung seit wenigen Jahren wieder vom Giebelfeld der Nikolaikirche Richtung Alter Markt zu den Menschen, die vorüber gehen. Mögen sie ebenso berührt werden wie Pfarrerin Weichenhan, die sagt: „Man wird erleben, so ist es mir selber auch gegangen, dass man im Betrachten dieser Figuren einen Weg geführt wird, wenn man versucht, sich ihrer Botschaft ganz offen zu nähern.“

 

16.05.2024
Gunnar Lammert Türk