Schuld und Schuldgefühle

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ The HK Photo Company

Schuld und Schuldgefühle
von Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
02.07.2024 - 06:35
20.06.2024
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
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Das junge Paar erwartet sein erstes Kind. Der Hochzeitstermin steht fest, ein halbes Jahr nach der Geburt des Kindes wollen sie feiern. Dann kommt alles anders. Am Tag vor dem Geburtstermin geht die Mutter ins Krankenhaus, weil sie schon länger keine Bewegungen des Kindes mehr fühlt. Wenige Stunden später steht fest: Das Kind ist tot. Und sie muss am errechneten Geburtstermin ein totes Mädchen zur Welt bringen.

Lähmende Trauer, Angst davor, wie sie das alles aushalten und durchstehen sollen, bricht aus den verwaisten Eltern heraus. Und Schuldgefühle: „Hätten wir es nicht verhindern können? Hätten wir nicht früher in die Klinik kommen müssen? Ich habe doch schon vor zwei Tagen so ein komisches Gefühl gehabt…! Hätten wir doch…Wären wir doch…warum haben wir nicht?!“

Die Eltern sehen sich selbst als Verursacher an. Und es ist scheinbar leichter, es so zu sehen, als die große Ohnmacht zu fühlen, an die der Tod des Kindes sie ausliefert. Lieber schuldig als ohnmächtig.

Pilatus, der römische Statthalter in Palästina zur Zeit Jesu, macht es ganz anders. Er ist hier, um den Kaiser zu vertreten, um für Ruhe zu sorgen und jede Rebellion zu unterdrücken. Seine Macht steht auf dem Spiel…. Nun sitzt er auf dem Richterstuhl und soll über den Angeklagten Jesus richten. Er wird ihn hinrichten lassen. Aber zuvor vollzieht er vor aller Augen dieses archaische Ritual. In der Bibel steht: „Da nahm er Wasser und wusch seine Hände vor dem Volk und sprach: Ich bin unschuldig an seinem Blut. Sehet ihr zu…“  „Ich bin es nicht, … aber die da!“

Vielleicht sind es diese beiden Extreme, zwischen denen wir Menschen hin- und herschwanken im Leben, wenn es um Schuld geht: eine eingeredete, nicht wirklich feststellbare Schuld und eine Schuldabwehr, ein Unvermögen, sich hinzustellen mit der ganzen Kraft der Person und zu sagen: Ja, ich habe dazu beigetragen, dass… Ich habe etwas Verkehrtes gesagt, getan, gedacht. Im einen Fall überschätzen wir unsere Macht, machen uns größer, als wir sind. Im anderen Fall bleiben wir weit zurück hinter der Möglichkeit, ein Mensch zu sein. Weil zum Menschsein Verantwortung gehört.

Und dazwischen gibt es unendlich viele Schattierungen von Schuldempfinden, Schuldbewusstsein. Es gibt Menschen, die leben vom Tag ihrer Geburt an mit Schuldgefühlen, weil sie sich abgelehnt fühlen von der Mutter oder vom Vater und denken, es muss an ihnen selbst liegen, mit ihnen stimmt was nicht.

Andere erleben konkrete Gewalt, haben selbst nichts dazu getan und werden sich trotzdem selbst schuldig fühlen. Nicht benannte, nicht erkannte Schuld kann diese unglaublichen Ausmaße bekommen. Deshalb brauchen wir einen konstruktiven Umgang mit Schuld und Schuldgefühlen und eine sorgfältige Unterscheidung von diesen beiden.

Wenn wir von Schuld reden, besonders in der Kirche, sollten wir es mit dem vollen Ernst tun, der diesem Thema gebührt. Es geht immer um Menschenleben, um zugefügte, um erfahrene Verletzungen. Aber wir sollten es nicht tun, um andere oder uns selbst damit einzuschüchtern, klein zu machen oder gar den Selbsthass oder die Verachtung zu schüren. Wir sollten Gewissensschulung betreiben und nicht Schuldkomplexe fördern.

Schuld hat mit Beziehung zu tun. Darum kann man es nur in Beziehung lösen. Das alte kirchliche Ritual der Beichte kann dafür ein befreiendes Instrument sein: vor Gott und einer Seelsorgerin erkennen, was verkehrt gelaufen ist. Bereuen, was zu bereuen ist. Den Schmerz zulassen auch über sich selbst, also integrieren statt abspalten.

Es gilt das gesprochene Wort.

20.06.2024
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen