Der Ekel vor Vergebung

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Eric Ward

Der Ekel vor Vergebung
von Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
01.07.2024 - 06:35
13.06.2024
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
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In Gesprächen mit Jüdinnen und Juden, sagt die evangelische Theologin Dorothee Sölle, habe sie etwas davon gelernt, was sie den jüdischen Ekel vor der christlichen Vergebung genannt hat. Wie rasch das bei Christen geht, wie schnell sie ihren Gott aus der Tasche ziehen und alles soll wieder gut sein.

Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Vergebung hat eine vertikale und eine horizontale Seite. Vertikal – ich bitte Gott um Vergebung für mein Versagen und versuche im Gebet, in diesem intimen Gespräch mit mir und der göttlichen Barmherzigkeit meine Beweggründe zu verstehen. Meine Empfindungen, warum ich das gesagt, getan, was ich mir dabei erhofft habe. Ich versuche, mich aus der Selbstanklage zu entlassen.

Wenn es aber dabei bleibt, ist es zu wenig. Die horizontale Ebene muss dazukommen, nämlich der andere Mensch oder die anderen, die mein Handeln betrifft. Um Vergebung bitten ist schwer. Und umgekehrt ist es nicht selbstverständlich, einem anderen zu vergeben.

Ich habe das erlebt als Betroffene, der Gewalt angetan worden ist. Es ist so leicht, über Vergebung zu predigen, biblische Geschichten darüber zu erzählen, auf die Gegenwart zu beziehen, auf die Geschichte von Völkern, die Versöhnung suchen. Aber sie persönlich zu vollziehen, das ist ein ganz anderes Kapitel. Aber es führt in die Tiefe und in die Wahrhaftigkeit.

Der Mann, der mir Gewalt angetan hat, hat mich nicht darum gebeten, ihm zu verzeihen. Aber in mir selbst ist das erlittene Unrecht, die Gewalt über Jahrzehnte nicht zur Ruhe gekommen. Ich habe versucht, mir zu erklären, warum er das getan hat. Das war nicht schwer, Gründe dafür zu finden. Aber damit war noch nicht viel gewonnen.

Denn fast jedes Jahr tauchte eine neue Facette des Erlebten in meinem Bewusstsein auf. Dass ich Erniedrigung erleben musste. Die Frage, wie man mir so etwas antun konnte. Schließlich tauchte zu meiner großen Überraschung die Erkenntnis auf, dass ich mich selbst dafür schäme. Obwohl ich doch gar nichts dafür konnte. Ich schämte mich der Erniedrigung. Das sagen alle Menschen, denen so etwas widerfährt.

Es war wichtig, all diese Gefühle zuzulassen, in mich hineinzuhören. Und dann begann eine unendliche Traurigkeit. In sie mischte sich die Anklage, der Ekel. Heute weiß ich, das hat mich krank gemacht. Ich hing fest wie eine Schallplatte, die das Lied nicht weiterspielen kann, weil da ein Kratzer ist. Erst die kluge Begleitung eines Schmerztherapeuten hat mich daraus befreit. Das Geschehene akzeptieren, es ist irreversibel. Das heißt nicht, dass ich es entschuldigen muss. Es ist geschehen. Dafür bin ich nicht verantwortlich.

Was ich ändern kann, ist mein Blick darauf: Meine Schmerzen anerkennen, meine Verletzlichkeit, meine daraus gewachsene Sensibilität. Und das, was mich krank macht, loslassen. Die Anklage sein lassen, denn sie wirkt wie Gift im Inneren, zersetzt Leib und Seele. Das hat mich frei gemacht.

Ich habe die Angst des Täters, seine Schwäche gespürt. Das war der tiefste Punkt von Vergebung, der für mich erreichbar war. Beide Dimensionen eingeschlossen, die vertikale und die horizontale. Ich habe „meinen Täter“ der Vertikalen Gottes anvertraut – dem Urteil Gottes. Und ich habe auf der Horizontalen aufgehört, etwas von „meinem Täter“ zu erwarten oder in der Anklage hängen zu bleiben.

Meine Würde konnte mir nicht genommen werden, meine eigene Vertikale war unzerstörbar. Heute würde ich sagen: Aus der Erfahrung der eigenen Verletzlichkeit ist auf der Horizontalen etwas entstanden, was ich nicht missen will: die fast seismographische Empfänglichkeit für die Leiden anderer. Für Erniedrigung. Gott aus der Tasche ziehen und Schwamm drüber ist tatsächlich das Gegenteil von Vergebung.

Es gilt das gesprochene Wort.

13.06.2024
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen