Das Gerechtigkeitssternchen

Das Gerechtigkeitssternchen
Pfarrer Dr. Wolfgang Beck
16.03.2019 - 23:35
02.01.2019
Dr. Wolfgang Beck

Es fasziniert mich immer wieder: Jesus nimmt Menschen wahr, die von allen anderen übersehen oder geschnitten werden. Jesus sieht diejenigen, an denen andere tagtäglich vorbeigehen; das allein provoziert manche. Er sieht die Menschen, die aufgrund ihres Lebensweges und weil ihnen Ehebruch unterstellt wird, von anderen geschnitten werden. Er hört das Rufen vom Straßenrand von einem, an dem alle anderen nur vorbeigehen. Und er ist gerade auch denen nahe, vor denen andere das Gesicht verziehen. Und da sich Jesus auf Gespräche mit diesen Menschen einlässt, verschafft er ihnen vor allem eines: Sichtbarkeit. Er sieht und macht sichtbar!

Schon darin ließe sich wohl das Revolutionäre seines Auftretens ausmachen. Denn Menschen, die für viele einfach unsichtbar sind, Sichtbarkeit vor anderen zu verschaffen, das verändert bereits ihre Position in der Gesellschaft. Mich fasziniert gerade das Anliegen, diesen Menschen Gerechtigkeit zu verschaffen, und ich bin überzeugt, dass darin für uns als Christen und Christinnen auch eine Verpflichtung steckt.

Das ist wichtig, gerade vor dem Hintergrund aktuell wieder heftig geführter Debatten um ein kleines Sternchen, das „Gender-Sternchen“. Es soll andeuten, dass es zwischen Männern und Frauen eben auch Menschen gibt, die sich beidem nicht einfach zuordnen können oder wollen. Auch das „d“ für „divers“, das mittlerweile sogar in Stellenanzeigen als dritte Geschlechtsangabe zu finden ist, drückt ja eine gestiegene Sensibilität aus. Auch dabei geht es um Akzeptanz, werden Menschen sichtbar gemacht – Menschen, die es natürlich immer gab.

Das Erstaunliche ist bei den Debatten um diese neuen Schreibweisen gerade auch, dass es schnell so hitzig zugeht und manchmal sogar aggressiv. Manche sehen im Gender-Sternchen den Niedergang der deutschen Sprache, andere wittern ideologische Verbrämungen und manch einer fürchtet gar, ihm solle seine Männlichkeit genommen werden. Zu viel „Schaum vor dem Mund“, so hat das eine Kommentatorin des Deutschlandfunks ziemlich treffend beschrieben und war befremdet. Sie forderte einfach mal ganz locker die erregten Gemüter auf: „Bitte ausatmen!“ Das scheint mir auch sinnvoll, wenn Empörung und Aufregung maßlos werden.

Denn worum geht es eigentlich? Nur vordergründig um ein Sternchen und um ein „d“ für „divers“. Hintergründig geht es darum, dass Menschen nicht ungerecht behandelt werden dürfen, gerade wenn es nur eine kleine Gruppe von Menschen ist.

„Aber gerade Sie, als katholischer Pfarrer müssten doch hier protestieren!“ – ich ahne schon jetzt die empörten Einwände, die auf mich zukommen werden.  Und ich weiß, das ist auch für uns in der Kirche ein langer Lernprozess. Auch für mich als Theologe haben alle naturwissenschaftlichen und soziologischen Erkenntnisse Geltung. Sie sind ja keine Glaubensfragen. Und als Christ weiß ich, dass es doch ganz der Praxis Jesu entspricht, wenn Menschen, die unfair behandelt und ausgegrenzt sind, sichtbarer werden. Wenn das durch ein Sternchen geschieht, ist das gut und sicher nicht gefährlich. Vor allem aber ist es aufmerksam und das ist gerade für Christ*innen entscheidend. Einen guten Sonntag!

02.01.2019
Dr. Wolfgang Beck