Klagen dürfen

Wort zum Tage
Klagen dürfen
27.03.2019 - 06:20
14.02.2019
Florian Ihsen
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„Das wird schon wieder“, lese ich in einem Artikel. Mann heilt depressiven Freund mit einem einzigen Satz. Ein Wunder. Das wird die gesamte Psychotherapie verändern, darüber sind sich Psychologen einig. Ähnliche Heilungserfolge hat man bei Aussagen wie „Kopf hoch“, „Denk einfach nicht dran“, „andern geht’s noch viel schlechter“ erlebt.

Manuel erzählt: Mein Kumpel Max war immer gut drauf, beliebt, ein Sprücheklopfer. In einem ernsten Moment erzählt er mir von seiner Depression. Nicht bei dem, dachte ich und sagte „das wird schon wieder“. Und zack war er wieder gut gelaunt und sprach das nie wieder an. Ich hatte schon befürchtet, ich müsste mich näher mit ihm befassen, auf seine Gefühle eingehen und so Kram. Außerdem hätte der die Stimmung in unserer Clique herunter gezogen.

Diese Nachricht habe ich im Postillon gelesen, einer satirischen Nachrichtenseite – und gelacht. „Das wird schon wieder“ „Andern geht’s noch viel schlechter“. Das sind verbreitete, aber auch wirklich hilflose und meist dumme Reaktionen, wenn es jemandem schlecht geht. Damit will man sich das vom eigenen Leib halten.

Es gibt offenbar einen stillen Konsens: Man darf nicht zu viel oder zu lange bei anderen klagen, vor allem wenn das Leiden nicht sofort sichtbar ist. Die Trauer um den Ehemann, den seine Frau nach 40 gemeinsamen Jahren begraben musste, die soll doch bitte nach einem Jahr aufhören. Und um die 93-jährige Oma trauern, die zum Schluss ein Pflegefall und sowieso alt genug war, das ist schon emotionaler Luxus, oder? Und wenn eine junge Frau mit 40 depressiv wird, obwohl sie doch alles hat, Ehemann, Kind, Job, eine Doppelhaushälfte – dann ist das doch Klagen auf hohem Niveau, oder?

Der stille Konsens „Klagen verboten“ hat eine lange Tradition. Im Lied „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ heißt es in der 2. Strophe:

„Was helfen uns die schweren Sorgen, was hilft uns unser Weh und Ach? Was hilft es, dass wir alle Morgen beseufzen unser Ungemach? Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit.“

Das hört sich doch an wie: Klagen hilft auch nicht weiter, wenn es einem schlecht geht.

Als Christ widerspreche ich da und sage Nein. Klagen darf sein; und muss sogar sein. Was nicht genug betrauert ist, kann nicht verheilen. Im Mittelpunkt des christlichen Glaubens steht ein Symbol der Klage: Das Kreuz, an dem Jesus Gott sein Leid klagt.

Was hilft uns unser Weh und Ach? Einiges! Klagen und Seufzen können helfen. Ich muss mein Kreuz und Leid nicht kleiner machen; ich darf es ganz ernst nehmen. Darf mir Zeit und Raum zur Trauer gönnen.

Und möchte mich auch fragen: Was ist in meinem Leben noch nicht genug betrauert worden?

 

Es gilt das gesprochene Wort.

14.02.2019
Florian Ihsen