„Ich war so melancholisch“

Wort zum Tage
„Ich war so melancholisch“
26.03.2019 - 06:20
14.02.2019
Florian Ihsen
Sendung zum Nachhören
Sendung zum Nachlesen

„Ich war so melancholisch“, sagt Georg, 60 Jahre alt, blind. „Ich war so melancholisch damals, mit 20.“ Was ist geschehen damals? Georg hat mit 19 das Gymnasium in seinem Heimatort verlassen und will in Leipzig Jura studieren. Es ist um das Jahr 1640 und es herrscht Krieg. Auf dem Weg nach Leipzig wird er überfallen. Georg verliert Bücher, Kleidung und alles Geld. Das Einzige, was ihm bleibt ist: Sein Stammbuch und die Papiere, die er für die Uni braucht.

Er muss sich durchschlagen ohne irgendetwas. Zu Fuß. Züge gibt es nicht. Es ist Herbst. Dann wird es Winter. Er muss betteln. Eineinhalb Jahre Ungewissheit. Schließlich kommt er nach Kiel. Und dort passiert etwas: Unerwartet bekommt er eine Anstellung. Ein Lehrer wird gerade gesucht. Und Georg ist der richtige Mann. Und damit wendet sich sein Leben total.

Doch diese schwere Phase vorher hat sich ihm tief eingeprägt und wirkt nach. Nachts nicht schlafen können, heulen, nicht wissen, wie es weitergeht. „Ich war so melancholisch, dass ich nachts Gott mit heißen Tränen kniend um Hilfe anflehte“. Nach dieser Phase verfasst Georg Neumarck dankbar ein Lied:

 

Wer nur den lieben Gott lässt walten

Und hoffet auf ihn allezeit,

den wird er wunderbar erhalten

in aller Not und Traurigkeit.

Wer Gott, dem Allerhöchsten traut,

der hat auf keinen Sand gebaut.

 

Dieses Lied singt vom Umgang mit der Traurigkeit, die noch etwas anderes ist als Trauer.

Traurigkeit heißt: Da hat sich etwas Belastendes verfestigt, was den Lebensmut beeinträchtigt. Heutige Ärzte sprechen von depressiven Störungen. Depression – eine Volkskrankheit, lange tabuisiert. Ich habe es im nächsten Familien- und Freundeskreis mehrfach erlebt und sogar bei Schulkindern. Wie wichtig ist es, dass die therapeutische Versorgung für psychisch erkrankte Menschen verbessert und ausgebaut wird. Und ebenso wichtig ist es, dass wir als Gesellschaft psychische Krankheiten ernst nehmen.

Wenn Melancholie und Traurigkeit das Leben behindern, dann ist therapeutische Hilfe wichtig.

Melancholie kann auch zu einer religiösen Erfahrung werden. Sie erinnert: Ich bin nicht nie ganz zu Hause in dieser Welt. Da ist noch ein Mehr und ein Anders. Was wir lieben, ist vergänglich. Und das Ewige ist nur einen Atemzug entfernt.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

 

 

Musik:

„Wer nur den lieben Gott lässt walten“; David Qualey; aus der CD „Begegnungen“; Gesangbuchverlag Stuttgart 1996.

14.02.2019
Florian Ihsen