Verlernen

Wort zum Tage

Gemeinfrei via unsplash/ Nonsap Visuals

Verlernen
von Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
06.07.2024 - 06:35
20.06.2024
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen
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Wenn ich zur Alexander-Technik-Stunde komme, geschehen jedes Mal kleine Wunder. Und das geht so: Ich komme mit starken Kopf-Nacken-Schulterschmerzen. Dann lässt die Alexander-Technik-Lehrerin mich durch den Raum gehen und schaut sich alles in Ruhe an: „Probier mal: Was passiert, wenn du aufhörst, dich zurückzulehnen?“ Ganz von allein stellt sich eine neue Balance ein, mein Oberkörper kommt ein wenig vor. Oh, das tut gut. Jetzt erst merke ich, wie sehr ich fast nach hinten gekippt bin beim Gehen.

Warum mache ich das? Ich nehme mich zurück, fällt mir als Antwort ein. Und packe mir wie auf einem großen Tablett alles voll mit Arbeit, Gesprächen, Familie und wieder Arbeit. Werde ich das verlernen können? Ich darf vorkommen. Da entspannt sich der Kopf, die Schultern werden locker. Das Atmen geht leichter.

Und so ist es jedes Mal. Ich komme, um zu lernen, wie ich etwas hinter mir lassen kann, das ich bisher für selbstverständlich und für wahr gehalten habe. Als müsste es so sein und nicht anders. Durchgedrückte Knie, Strammstehen aus Pflichtbewusstsein, hochgezogene Schultern, Kieferschmerzen vom Auf-die-Zähne-Beißen. Man kann es verlernen.

Für mich steht immer schon Lernen, Wissbegier im Mittelpunkt. Das Verlernen ist mir mit der Zeit aber mindestens so wichtig geworden. Auch was meine christliche Religion anbelangt. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat vor vielen Jahren gesagt:

„Es scheint mir eine Tragödie zu sein, dass auf allen Seiten – die Rabbiner, die Priester, die Pastoren, die Bischöfe, die Mullahs, die Ajatollahs – dass sie allesamt uns theologischen Laien jede Kenntnis der anderen Religion vorenthalten haben. Sie haben uns im Gegenteil gelehrt, über die anderen Religionen ablehnend und abfällig zu denken. So bin ich zum Beispiel aufgewachsen und viele von Ihnen auch, wenn Sie ehrlich mit sich selber sind.“ (2007, Rede zum Weltethos)

Ich habe diese Worte von Helmut Schmidt vergangenen Sommer im Radio gehört, und sie trafen mich mitten ins Herz. Was haben wir etwa vom Judentum gelernt im evangelischen Religionsunterricht oder gehört in den Sonntagspredigten? Die heuchlerischen Pharisäer. Die dummen, kleinkarierten, besserwisserischen jüdischen Schriftgelehrten. Der verräterische Judas. Der rachsüchtige Gott des Alten Testaments. Juden – angeblich die Mörder unseres Heilands. Zerrbilder. Und Jesus als Lichtgestalt komplett losgelöst von seinen jüdischen Wurzeln. Das ist ein falsches Bild. Werden wir verlernen können, was wir gelernt haben?

Jesus hat aus dem großen Reichtum der jüdischen Lehre, der Thora, ein paar Linien stärker betont als andere. Die Barmherzigkeit, die Vergebung. Die Liebe. Und dieses göttliche Gesetz der Liebe gelebt, verkörpert, in die Welt gebracht mit Fleisch und Blut, damit alle Menschen sein können, was er war: Licht vom Licht, ein Stück von Gott. Sohn Gottes, Tochter Gottes, Kind Gottes.

Erfunden hat Jesus das alles nicht, sondern weitergeführt. Erfunden haben wir Christen es nicht, sondern geerbt und weitergeführt. Dass wir unser jüdisches Erbe einmal so recht tief wertschätzen, das ist möglich. Und was dem entgegensteht, für immer verabschieden aus unserem Herzen. Die bittere Wurzel der Verachtung darf nicht weiter wachsen in uns, zwischen uns und Unfrieden anrichten.

Und – sie muss auch nicht weiter wachsen zwischen uns und den muslimischen Gemeinden. Wir können und müssen uns wehren gegen Fundamentalismus. In jeder Religion. Und zugleich können wir an der Seite derer stehen, die den Frieden suchen und ihm nachjagen. Nicht mit zusammengebissenen Zähnen. Mit Händen und Füßen und offenen Herzen. Da sehe ich unseren Platz als Kirche.

Es gilt das gesprochene Wort.

20.06.2024
Pfarrerin Melitta Müller-Hansen