Ein kleiner Schritt…

Morgenandacht
Ein kleiner Schritt…
27.06.2019 - 06:35
23.05.2019
Gerhard Koepke
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„Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit“.

Gesagt hat das Neil Alden Armstrong, US-Amerikaner und Astronaut, bevor er als erster Mensch seinen Fuß auf den Boden des Mondes setzte.

Alle Welt hat ihm damals zugehört, als er die letzte Stufe der Leiter aus der Raumkapsel hinunterschritt und – wie in Zeitlupe - auf den Boden des Mondes sprang. Das war 1969. Fünfzig Jahre ist dieses Ereignis jetzt her.

Ich war damals Schüler und saß im Wohnzimmer vor einem Schwarz-Weiß-Fernseher - Farbfernsehen gab es zwar schon, aber wir hatten noch keinen - und habe heute noch die Bilder ganz deutlich vor Augen: Diese Leiter aus der Kapsel der Apollo 11, die Neil Armstrong mit seinen Händen rechts und links umklammert. Der große, runde Helm des Raumanzugs, den er trägt mit dem Sauerstoffgerät auf dem Rücken. Langsam nimmt er rückwärts Stufe für Stufe den Weg nach unten. Und dann der letzte Sprung: Und er steht auf dem Mond.

„Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit“.

Der erste Schritt vom Bürgersteig hinunter auf die Straße, um die dann zu überqueren: Für Frank war das ähnlich.

Eigentlich ist das ja ein kleiner Schritt für einen Menschen, der Schritt vom Bürgersteig hinunter auf die Straße. Eher eine Banalität, wirklich gar nichts Besonderes. Nicht vergleichbar mit dem Mond!

Für Frank jedoch verbirgt sich hinter diesem Schritt vom Bürgersteig hinunter auf die Straße ein riesiger Sprung in seiner Entwicklung.

Frank war in seinem Leben bisher immer nur eingesperrt.

Frank war und ist ein „Ver-rückter“, wie Menschen manchmal, ohne nachzudenken, voreilig sagen. Dabei war und ist er nur ein wenig anders als die meisten. Und verschieden sein ist normal. Frank ist psychisch erkrankt.

Häufig war er aggressiv. Jedenfalls früher. Zeitweise trug er deswegen eine Zwangsjacke. Und er wurde häufig mit Medikamenten ruhiggestellt. Anders, so dachte man, käme man mit ihm nicht klar.

Richtig gehen, sich frei bewegen, das hatte er in den Jahren hinter verschlossenen Türen verlernt. Frank war in einer geschlossenen Anstalt, in einem Landeskrankenhaus, der Psychiatrie, eingesperrt. Am Rande der Stadt.

Frank gehörte zu denen, die in Zusammenhang mit der Psychiatrie-Reform vor gut 25 Jahren in eine therapeutische Wohngruppe kamen. Die Psychiatrie-Reform hat solche geschlossenen Anstalten aufgelöst - um den Menschen ein würdevolleres Leben zu ermöglichen. In solchen Wohngruppen zum Beispiel.

In seiner Wohngruppe wohnt und lebt Frank nun ortsnah. Er wird in seiner Entwicklung gefördert und auch gefordert, so dass man Fortschritte in seinem Verhalten wahrnehmen kann. Das tun Menschen, die ihm zur Seite stehen. Das tun Menschen, die ihm keine Medikamente einflössen, nur um ihn ruhigzustellen. Und das dauert natürlich. Die Menschen müssen viel Geduld mit Frank aufbringen. Und manchmal gibt es auch Rückschläge.

Wenn Frank möchte, darf er sich frei bewegen, und er darf hingehen, wohin er will.

Und so geht er allein und wagt es, nimmt allen Mut zusammen, und wagt es eines Tages diesen Schritt hinunter vom Bürgersteig auf die Straße, um sie zu überqueren.

„Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen, aber ein riesiger Sprung für die Menschheit“.

Ein kleiner Schritt war das für Frank. Ein großer Schritt ist das jedoch in der Entwicklung der Menschheit gewesen - denn um Menschlichkeit, um Menschenwürde ging es ja bei der Psychiatrie-Reform.

Die Würde eines jeden Menschen will ich anerkennen. Für mich ist der Mensch, gleich wie geschaffen, Ebenbild Gottes. Ich will ihn respektieren in seiner Besonderheit. Ja, auch in seinem Anderssein. Es ist normal, verschieden zu sein. Das gilt für alle Menschen. Ob mit oder ohne Behinderung.

Heute geht Frank, wenn er denn möchte – sonntags allein in die Kirche. Und anschließend, manchmal, ins Restaurant, um ein Schnitzel essen. Und wenn er mich trifft, dann drückt er mich und schmatzt mir ganz viele Küsse ins Gesicht…

Wer hätte das gedacht, was aus so einem kleinen Schritt einmal alles werden kann.

 

Es gilt das gesprochene Wort.

23.05.2019
Gerhard Koepke