Odem - das stille Wunder

Gemeinfrei via unsplash/ Eli DeFaria

Odem - das stille Wunder
Gedanken zur Woche von Ulrike Greim
05.07.2024 - 06:35
11.04.2024
Ulrike Greim
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Die Gedanken zur Woche im DLF.

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Es gibt ein großartiges altes Wort, das leider etwas aus der Mode gekommen ist: Odem. Meist wird es etwas verkürzt wiedergegeben mit Atem. Dabei ist der Odem – man muss ihn langsam und genüsslich auf einen langen Ausatmer aussprechen – Ooooohhhhhdemmm – er ist ein wunderbares Wechselgeschehen mit Zeit und Raum. In der biblischen Erzählung von der Erschaffung des Menschen heißt es: „Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.“ (Gen 2,7) Großartig, nicht?! Gottes Startimpuls für unser Leben ist: Er gibt uns seinen Odem in die Nase. Deshalb leben wir. Ich und du und alle um uns herum, und überhaupt alle: alle Menschen, alle Tiere, und selbst Pflanzen auf ihre Weise. Alles, was lebt atmet. Das verbindet uns. Und wir können gar nichts dagegen machen, selbst wenn wir wollten. Wir könnten uns nur das Leben nehmen, um nicht daran beteiligt zu sein. Gottes Odem verbindet uns alle.

Was wir aber können, ist, dies zu würdigen. Jeden Atemzug so zu sehen: als Geben und Nehmen mit allen, die um mich sind. Mit allen, mit denen ich im gleichen Zugabteil sitze oder das Büro teile, die, mit denen ich im gleichen Stadion sitze oder stehe – umso mehr, je mehr ich brülle. Auch mit der gegnerischen Partei im Gerichtssaal. Angeklagter und Kläger sind verbunden, Täter und Opfer. Und bei jeder Familienfeier müssen wir uns das auch eingestehen: Auch der abgedrehte Schwager, die vegane Nichte, der junge Burschenschaftler – alle sind verbunden – durch den Odem Gottes. AfD-Wähler und Grünwählerinnen, die, die den Rassemblement National tatsächlich für eine gute Alternative halten und die Macron-Leute. Die Orbans und die Tusks. Trump und Biden. Spanienfans und die, die die Deutschlandfahne schwenken. Alle sind verbunden. Gegnerschaft gibt es partiell und zeitlich begrenzt auf dem Rasen oder auf dem Wahlzettel, aber nicht im ganzen Leben.

Dieser Odem ist eine Macht. Sie arbeitet ohne mein Zutun. Ein Wunder, gegen das ich mich nicht wehren kann. Warum sollte ich auch.

Dieses Wunder verbindet mich mit allen.

In Trainings für Täter-Opfer-Ausgleich wird diese Geschichte gerne erzählt: Ein Sozialarbeiter hatte einen verurteilten Neonazi zu betreuen. Der hatte einen Mann aus Nigeria zusammengeschlagen. Das Opfer hatte schwerverletzt überlebt. Er hat nun diesen Nigerianer gefragt, ob er bereit wäre, sich dem Täter im Knast gegenüberzusetzen. Es sei ein Tisch dazwischen, ein Wachmann sei dabei. Einfach, damit der Täter merkt, was er getan hat. Nach Zögern hat der Nigerianer zugesagt. Das Gespräch war mehr als mühsam. Der Neonazi wollte seinem Gegenüber nicht einmal in die Augen schauen, hat nur mit dem Sozialarbeiter gesprochen, widerwillig. Nach einiger Zeit hat der Sozialarbeiter entnervt aufgegeben. Hat nur noch gesagt: „Aber sie wissen schon, dass sie seit fast einer Stunde die gleiche Luft atmen, dass die mehrmals durch sie beide durch ist?“ Der Neonazi soll gestutzt haben. Dass er irgendetwas gemein hat mit diesem Mann, wollte ihm nicht in den Kopf. Es wurde zwar nicht tateinsichtig, hat sich nicht entschuldigt, aber zumindest war er irritiert.

Dies ist die gute Nachricht in allen vermeintlichen und tatsächlichen Polarisierungen. Bei allen Unterschieden zu anderen, die wir ausmachen oder auch nur konstruieren: Der Atem verbindet uns. Es lohnt, einmal so zu denken. Wie Gott von Anbeginn an. Der Odem macht, dass wir lebendig sind, wir alle, die wir jetzt hier sind. In Familien. In Wahlkämpfen. Und auf dem Rasen. Er verbindet uns untereinander und mit Gott. Ein Wunder, nicht?!

Was wäre das groß, wenn wir all das würdigen könnten. Immer erst einmal entspannt weiteratmen. Und erst dann weiterreden, wenn man einmal durchgeatmet hat. Durch sich selbst und die anderen. Das könnte die Überhitzung aus den Debatten nehmen. Die Galle besänftigen, jede und jeden bereiter machen, zuzuhören.

Ich singe heute ein Loblied auf den Odem Gottes. Das stille Wunder, das uns verbindet.

Es gilt das gesprochene Wort.

 

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11.04.2024
Ulrike Greim